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Winterabend

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Draußen stürmt und regnet es, aber wir merken es kaum. Erwartungsvoll haben wir uns um den großen Esstisch geschart: Großeltern, Eltern und zwei Enkelkinder. Vor uns liegt ein neues Spiel, das wir “testen” wollen. Schon der Name regt unsere Phantasie an: WANDELWINDE. Was wird sich da wohl wandeln? Oder hat Wandeln auch etwas mit Wandern und Wanderung zu tun? Wandlung und Wanderung? Und Winde? Sind es die Blumen im Garten, die sich windenden Winden, oder sind es Windungen, wie sie in der Kunst, im Handwerk oder in den Flüssen zu finden sind, oder haben sie sogar mit dem Sturm draußen, mit den stürmischen Winden zu tun? “Wir wollen erst die Spielanleitung lesen”, sagt der Vater. Aber Felix hat keine Lust zu warten. “Immer erst lesen... ich will etwas probieren”. Er fängt an, die Karten über den ganzen Tisch zu verteilen. Und jetzt staunen wir. Welche Vielfalt an Windungen, an Bewegungen breitet sich da aus!

“Flechtbänder heißen sie”, liest der Vater vor. “Für das Spiel wurden die Flechtbänder an Schnittpunkten zerlegt, die viele Kombinationen, verblüffende Wandlungen und wunderschöne Bilder entstehen lassen.” Die Mutter hat schon entdeckt, dass sie die Schnittpunkte wieder zu einem Band zusammen schieben, und dass sie dadurch verschiedene sich windende Knoten aufeinander folgen lassen kann. Sie versucht, ein altes keltisches Relief zu legen. “Das sind aber nicht nur Flechten”, sagt die Großmutter. “Schau, da beißen sich zwei Schlangendrachen in den Schwanz, und dort steigt ein Phönix aus einem brennenden Gefäß. Und siehst du dort den großen Flügel? Das ist das Ende einer Windung. Wir wollen ihn nicht zu schnell anlegen, weil wir dann nicht mehr weiter kommen.” Unsere Blicke gleiten über gefleckte Schlangen, blumengeschmückte Verschlingungen, Kornähren und Spiralen, die wie Labyrinthe anmuten.

Jetzt wollen wir spielen, aber erst einmal mit offenen Karten. Jeder bekommt sieben Karten. Die goldene Samenkapsel wird gesucht und in die Mitte des Tisches gelegt. Dann versuchen wir anzulegen. Immer neue Möglichkeiten entdecken wir und es ist schwierig, in der Reihenfolge der Spieler zu bleiben. Lisa ist die Jüngste und die Schnellste. Aber sie muss anhalten und mit den anderen überlegen, wie die besten Wege zu finden sind. Wer nicht anlegen kann, muss eine zusätzliche Karte vom Stapel nehmen. Wir verabreden, zunächst die Karten mit den ganzen Seiten, also nicht versetzt, aneinander zu legen. Felix, der ein gutes Bildgedächtnis hat, weiß jetzt schon, wie die Figuren aussehen sollen, die er plant. Dann ist er aber sehr überrascht, dass es ihm nicht gelingt und wie bunt, wie ‘ungeplant’ der Teppich wird.

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“Diese Karte kann ich nicht anlegen”, sagte die Mutter plötzlich und zeigt einen Text. Sie liest vor: “Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.”(Goethe) Einen Augenblick überlegen alle, dann fügt sie hinzu: “So ist auch hier jede Karte ein Repräsentant des ganzen Bildteppichs.”

Unbemerkt von den anderen hat der Großvater inzwischen den starren Plan von neben einander liegenden Reihen und die Vorstellung eines geschlossenen Teppichs durchbrochen. “In den Spielregeln steht, dass alte Muster verändert werden dürfen, wenn dadurch ein neuer Weg entsteht. Es dürfen aber nur Karten umgelegt, nicht entfernt werden, und es kommt dabei immer eine neue Karte hinzu”, sagt er. Seine Vorschläge, wie es weiter gehen könnte, verbreiten die Winden und Windungen in ‘Windeseile’ über den ganzen Tisch, und eine Weile wird konzentriert gespielt. Erst, wenn wir uns dem Tischrand nähern, wird ein Schlussknoten gelegt. Jeder spielt nach seinem eigenen Temperament und muss sich dennoch dem Rhythmus der Wandelwinde anpassen. Schließlich legen wir die restlichen Karten verdeckt zur Seite und betrachten unser Ergebnis. Der Tisch hat sich in ein Kunstwerk verwandelt und alle sind zufrieden.

WANDELWINDE ist als Familienspiel aufgenommen. In den folgenden Tagen zeigt sich, wie vielseitig das Spiel gestaltet werden kann. Lisa spielt gerne alleine, hat auch schon den ganzen, dem Spiel als Blatt beigefügten Teppich gelegt. Dazu hat sie, unsere Zappelphilippine, erstaunlich lange still und konzentriert am Tisch gesessen. Der Vater hat gleich ein Spiel mit zur Arbeit genommen. Er betreut eine Gruppe Jugendlicher, die voller Verwunderung mit den Fingern den Windungen folgen und ein wenig das Gefühl haben, damit tanzen zu können. Die Großmutter hat ein Buch mit irischen Steinkreuzen und Flechtbändern hervor gesucht. Sie vergleicht die Bilder und versucht, einzelne Formen nachzuempfinden. Und die Mutter überlegt sich, wem sie das schöne, gleichzeitig ansprechende und innerlich erquickliche Spiel schenken kann.

Arnica Esterl, im Oktober 2002

Diese Geschichte finden Sie HIER zum Ausducken.

 

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